Kritik: Doctor Who – Extremis

Series 10, Episode 6
mit Peter Capaldi, Pearl Mackie und Matt Lucas
Drehbuch: Steven Moffat
Regie: Daniel Nettheim
48 Min. / Erstausstrahlung 20.5.2017

A

Mit Spoilern.

Woran merke ich, dass ich gerade eine Steven Moffat-Episode geschaut habe? Für mich gibt es dafür einen recht einfachen Test (der glücklicherweise nicht damit endet, dass ich mich selbst umbringe): Habe ich während der Dreiviertelstunde, die gerade verstrichen ist, mein Smartphone gecheckt? Meine Aufmerksamkeisspanne ist oft genau so schlecht wie des Doctors, und obwohl jede neue Doctor Who-Folge für mich ein so monumental wichtiges Event ist wie für andere Leute die Geburt ihres ersten Kindes, finde ich mich, vor allem während eher langsamen Folgen wie Smile oder Thin Ice, immer wieder versucht, nachzusehen, ob irgendwo anders auf der Welt vielleicht etwas noch Interessanteres passiert ist.

Aber wenn Steven Moffat eine Geschichte schreibt, ist das anders. Und wenn es noch dazu eine seiner experimentellen Standalone-Geschichten ist, lasse ich mein Handy nicht nur während der Folge unberührt liegen, ich vergesse auch gerne die erste halbe Stunde nach Ausstrahlung der Folge, dass es überhaupt existiert. Was für eine Leistung! 48 Minuten, die fast ausschließlich aus Gesprächen in Räumen bestanden und deren größte Actionszene einem blinden Mann mit einem Laptop in der Hand folgte, der nach ein paar Sekunden des ziellosen Rennens stürzte. Und ich konnte meinen Blick nicht für eine Sekunde abwenden.

Natürlich hat das auch mit der schieren Komplixität zu tun, die Moffats Talent und Detailverliebtheit der Folge verleiht. Man rauscht durch so viele Hinweise auf sowohl den Plot als auch das Wesen der Charaktere hindurch, dass es bei nur einmal Schauen fast unmöglich ist, alles mitzunehmen (die nicht sehr dialogfreundliche Audiomische der BBC macht das leider nicht einfacher). Und so kam es hinterher zu einer merkwürdigen Situation, in der ich zwar von dem Erlebnis gegen die Wand geblasen worden war und mein Kopf vor Ideen toste, und ich dennoch eine eigentlich sehr einfache Frage stellen konnte: Was hatte eigentlich der Titel zu bedeuten?

 

Diese Frage, wie auch vieles andere, wird beim zweiten Durchgang deutlicher. „Virtue is only virtue in extremis“, oder weniger elegant ausgedruckt, „Tugend ist nur Tugend im Angesicht des Todes.“ Steven Moffat stellt einmal mehr sein ehrfurchterrendes Talent unter Beweis, Zitate im Stil von 1A-Shakespeare-Shit aus dem Ärmel zu schütteln als wäre es ein Kinderspiel (wer erinnert sich noch an „Great men are forged in fire. It is the privilege of lesser men to light the flame.“?) Mit diesem Satz bildet er eine Parallele zu den stetig eingespielten Missy-Rückblenden, die ermahnen, immer das richtige zu tun, auch „Without witness., without hope, without reward“.

Denn letztendlich tut der Doctor das. Am Ende von Extremis ist er genau am titelgebenden Ort angekommen, und damit vielleicht am tiefsten und hoffnungslosesten Ort, an dem er je war. Er hat erkannt, dass er selbst nicht real ist. Dass seine Freunde Bill und Nardole, selbst seine geliebte River, deren Tagebuch er fest an sich drückt, nur Computersimulationen sind, falsche Abbilder der echten Personen, die in einer für ihn vollkommen unerreichbaren Welt existieren. Es ist eine Erkenntnis, auf die jeder anders reagiert, doch der Doctor wird nicht panisch oder depressiv. Der Doctor ist ein so guter, so durch und durch fantastischer Mann, dass er selbst, wenn er nicht echt ist, selbst wenn sein Handeln ohne Zeugen ohne Hoffnung und ohne jeden Nutzen für sich selbst sein wird, er trotzdem alles daran setzt, der echten Version von sich selbst zu helfen.

Erinnerungen an Heaven Sent werden wach, als der Doctor ebenfalls jeden neuen Zyklus mit der Erkenntnis beendete, dass er selbst sterben musste, damit eine Kopie seiner selbst irgendwann in ferner Zukunft den Weg aus der Hölle finden wird. Oder an Asylum of the Daleks, in der Oswin erfuhr, dass sie zwar real, aber in einen Dalek verwandelt worden war, ihren Körper und ihre Identität verloren hatte, und dennoch dem Doctor, Amy und Rory bei ihrem Versuch half, den Planeten lebend zu verlassen. Denn – und auch daran werden wir erinnert – Tugend ist nicht auf den Doctor beschränkt. Jeder Mensch, der das Veritas las und sich daraufhin das Leben nahm, tat es um den Dämonen, die die Erde zu zerstören suchen ein kleines Stück ihres Plans zu vereiteln. Um ihnen nicht noch mehr Daten zu geben, um die echte Erde zu vernichten.

Steven Moffat zeichnet sich bereits für viele traumatisierte kleine Kinderseelen verantwortlich. Doch nach Statuen, Kindermädchen und all den anderen üblichen Gruselelementen hat er den jüngsten Zuschauern seiner Serie ihre vielleicht bisher schlimmste Angst in den Kopf gesetzt: Was, wenn ich nicht real bin? Irre, dass eine beliebte Science Fiction-Serie eine Folge mit einer Szene beginnen kann, in der der Papst ein lesbisches Date unterbricht, nur um ihre Zuschauer schließlich mit bester philosophischer Existenzangst zurückzulassen. Fast ein bisschen zu irre, um real zu sein… Danke, Steven Moffat, für diesen Gedanken. Und für alle anderen auch.

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